Der Biologe und Autor Clemens Arvay hat ein Buch zu einigen Impfungen gegen das neue Coronavirus geschrieben. Mit “Corona Impfstoffe – Rettung oder Risiko” möchte er Menschen in die Lage versetzen, eine gut informierte Entscheidung zu der Frage zu treffen, ob sie sich impfen lassen sollten. Mit diesem Anspruch ist Clemens Arvay ein natürlicher Verbündeter unseres kleinen Informationsnetzwerks Impfen. Nach einer kursorischen Lektüre relevanter Teile seines Buches und dem Konsum einiger der von ihm veröffentlichten Videos muss ich leider sagen, dass ich nicht denke, dass er seinem oder unserem Anspruch gerecht wird. 

Anhand einiger Beispiele werde ich versuchen zu zeigen, warum die Information, die Arvay in seinem Buch darbietet, irreführend und keine gute Grundlage für eine Impfentscheidung ist. Dazu muss sicher angemerkt werden, dass es eine anspruchsvolle Aufgabe ist, zum jetzigen Zeitpunkt ein Buch herauszugeben und den Stand der Wissenschaft zu den Coronaimpfstoffen darzustellen. Eine Herkulesaufgabe, die mindestens Expertise und Erfahrung in Immunologie, Epidemiologie, Infektiologie und Grundlagenwissen in Humanmedizin (ungefähr auf dem Niveau eines abgeschlossenen Hochschulstudiums) voraussetzt, um der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Politik grobe Fehler im Bezug auf diese Impfstoffe nachzuweisen. Letztere Aufgabe hat Arvay zu der seinen gemacht. Schauen wir uns das mal an.

Ich werde zeigen, wie In dem Buch selektive Ergebnisse dargestellt werden, die nicht den aktuellen wissenschaftlichen Stand wiedergeben. Ich zeige das beispielhaft unter „Cherry Picking“. Die Experten, die Arvay als Kronzeugen seiner Behauptungen anführt, sind in vielen Fällen keine Experten, die einen angemessenen fachlichen Hintergrund haben, um ihnen mehr als eine Meinungsäußerung informierter Laien (so wie ich einer bin) zuzutrauen, dazu mehr in „Experten, die keine Experten sind“. Einige Aussagen Arvays sind richtig. Wenn man den relevanten medizinischen Kontext berücksichtigt, sind sie jedoch nicht mehr relevant oder die Schlüsse, die er zieht, sind falsch, das wird in „Nontext“ näher beleuchtet. In der Medizin gibt es keine absoluten Effekte. Es geht immer um die Abwägung von Nutzen und Risiko. Das Risiko (zu unterscheiden von der Gefahr) sieht Arvay sich sehr genau an. Den Nutzen stellt er in seinem Buch jedoch kaum dar. Unter „Ignorierter Nutzen“ mehr dazu. 

Cherry Picking

Arvay ist der Ansicht, die Entwicklung der zugelassenen Coronaimpfstoffe könne nicht ausreichend sicher gewesen sein, weil trotz “teleskopierter” Entwicklung (viele Schritte laufen parallel, die Zulassung wird priorisiert) zu wenig Zeit vorhanden gewesen sei. Um seiner Kritik an der teleskopierten Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe Gewicht zu verleihen, verweist Arvay auf das British Medical Journal (BMJ):

„Der Mediziner Hamish Duncan veröffentlichte am 24. November 2020 einen Beitrag im British Medical Journal, in dem er sich auf den dort begonnen Diskurs bezog: »Ich war begeistert darüber, hier einige sinnvolle journalistische Herausforderungen rund um die COVID-19-Impfstoffe zu lesen. Daher erwartete ich herausfordernde Artikel in Medizin- und Leitmedien, in der Hoffnung, dass es nun einen authentischen Diskurs über die vielen unbeantworteten Fragen rund um die Impfung geben werde.« Duncan äußerte seine Verwunderung darüber, dass dieser mediale Diskurs ausblieb. Seine Schlussfolgerung anlässlich der unbeantworteten Fragen rund um Sicherheit und Wirksamkeit lautete: »Wir schlafwandeln in eine riesige prospektive Kohortenstudie«.  Quelle

Der Beitrag ist ein Brief („Letter“) und damit eine Meinungsäußerung. Mehr steht in dem Brief auch nicht drin: keine neuen Ergebnisse, keine neue Einordnung bekannten Wissens. Es ist einfach eine Meinungsäußerung zur Berichterstattung.

Arvay verweist auf weitere Beiträge im BMJ, die kritische Fragen zu dem Covid-19 Impfstoffen stellen. Das widerspricht seiner Behauptung, eine Debatte würde nicht geführt oder von der Fachwelt ignoriert. Denn das BMJ ist eine der  wichtigsten medizinischen Zeitschriften der Welt. Eine Debatte dort findet im Herzen (oder Kopf) des medizinischen Mainstreams statt. Vielleicht sind die Argumente der Kritiker nicht ausreichend, um das Ergebnis der Debatte in ihrem Sinne zu beeinflussen? Vielleicht werden ihre Argumente aber auch im Prozess berücksichtigt? Planungs- und Strategieänderungen gab es im letzten Jahr einige, das spricht für eine dynamische Debatte. Das ist ein normaler wissenschaftlicher Prozess. Hamish kann natürlich nichts dafür, doch ich musste schon etwas schmunzeln, dass er Zustimmung ausgerechnet vom Editor von AgeOfAutism erhielt, einer Organisation, die so einige pseudowissenschaftliche Ansichten zu Impfungen und Autismus vertritt.

Als Beleg für mögliche Langzeitrisiken von Vektorimpfstoffen führt Arvay einen weiteren Brief an, diesmal im Lancet, auch ein hochklassiges Publikationsorgan der medizinischen Wissenschaftscommunity:

„Wie wichtig sorgfältige Beobachtung und Evaluierung sind, macht ein besorgniserregender Bericht der Impfstoffforscherinnen und Impfstoffforscher Susan Buchbinder, Juliana McElrath, Carl Dieffenbach und Lawrence Corey deutlich, der im Oktober 2020 in The Lancet publiziert wurde. Darin geht es um virale Vektorimpfstoffe, die auf Adenoviren basieren, und zwar auf sogenannten Typ-5-Adenoviren. Eine solche Impfstoffplattform ist etwa gleich weit fortgeschritten wie der »Oxford-Impfstoff« und gehört zu den Favoriten gegen SARS-CoV-2 in der klinischen Phase III.“

In dem Brief wird auf eine Beobachtung im Rahmen einer Studie für einen potenziellen HIV-Impfstoff hingewiesen. Einige Menschen die einen Adenovirenimpfstoff erhielten, könnten ein erhöhtes Risiko gehabt haben, sich mit HIV zu infizieren. Das galt in der Studie allerdings nur für unbeschnittene Männer, die ungeschützen Analverkehr hatten und die vor Beginn der Studie bereits immun gegen den genutzten Vektor waren. Die absoluten Unterschiede zur Placebogruppe waren jedoch gering und es ist möglich, dass diese Unterschiede durch unterschiedliches Risikoverhalten entstanden sind. Das wird von den AutorInnen auch diskutiert.

Das zentrale Argument Arvays ist jedoch folgendes:

„Und selbst wenn man Zigtausende Probanden in die Studie einbezogen hätte (Anm.: So wie bei den Studien zu den Coronaimpfstoffen …), wäre der adverse Effekt nicht früher sichtbar geworden. Um ihn festzustellen, mussten die Probanden eineinhalb Jahre beobachtet werden. Was der Impfstoff auslöste, wurde erst sichtbar, nachdem genügend Zeit verstrichen war.“ 

Arvay sagt also, in dem Brief stünde, der Effekt wäre erst nach 18 Monaten aufgefallen. Er sagt damit auch, die Studien gegen Coronaimpfstoffe müssten mindestens so lange dauern. Die AutorInnen schreiben in dem Brief:

„The Step trial found that men who were Ad5 seropositive and uncircumcised on entry into the trial were at elevated risk of HIV-1 acquisition during the first 18 months of follow-up.“

Sie haben also den mangelnden Schutz INNERHALB der ersten 18 Monate festgestellt, nicht danach. Schaut man sich die Studie selbst an, ist die Nachbeobachtungszeit länger und die Impf- und die Placebogruppe nähern sich einander an. Die mangelnde Wirksamkeit des Wirkstoffs (also keine Nebenwirkung, sondern mangelnde Wirkung) hatte man jedoch schneller herausgefunden. Damit eignen sich weder der Brief noch die Studie als Beleg für Arvays Behauptung.

[Ergänzung, 05.03.2021]

Es ist immer dasselbe, wenn man etwas nur in Großbuchstaben schreibt, passiert ein Fehler. Das oben Geschriebene gibt nicht vollständig korrekt wieder, was Arvay schreibt. Ich denke aber, es gibt korrekt wieder, was er meint. Im Buch schreibt er tatsächlich:

„Deren Auswertung ergab, dass das HIV-Ansteckungsrisiko innerhalb von 18 Monaten nach der Impfung erhöht war.“

Ich muss zugeben, dass hatte ich überlesen. Ich glaube aber, dass die Formulierung und die Tatsache, dass Arvay die Formulierung bewusst wahrgenommen hat, meine Kritik eher verschärft, ich möchte versuchen zu erklären warum:

In einem seiner YouTube-Videos, das nach Erscheinen des Buches entstanden ist, wiederholt Arvay seine Aussage, die oben genannte Studie sei ein Beleg dafür, dass lange Nachbeobachtungszeiträume notwendig seien, bevor ein Impfstoff zugelassen wird. Ich sage, dass die Studie sich als Beleg dafür nicht eignet, weil der Effekt, um den es ihm geht, bereits innerhalb der ersten 18 Monate auftritt. In dem Abschnitt in dem er auf die Studie eingeht, äußert er sich wiederholt in einer Form, als wäre ihm nicht klar, was das bedeutet.1  Schauen wir uns das gemeinsam an:

„Nun kommt das Wesentliche: Dieser schwerwiegende adverse Effekt, (…) wurde erst im Rahmen einer Langzeitbeobachtung festgestellt, die sich über Jahre erstreckte. Deren Auswertung ergab, dass das HIV-Ansteckungsrisiko innerhalb von 18 Monaten nach der Impfung erhöht war. Es gab keine Möglichkeit, diese Auswirkung durch klinische Symptome als Impfnebenwirkung zeitnah nach der Verabreichung vorauszusehen.“

Die Ansteckung mit HIV ist keine Nebenwirkung in der Studie, sondern eine fehlende Wirkung. Die Dauer einer solchen Studie hängt unter anderem davon ab, wie viel „Infektionsgeschehen“ stattfindet. Je mehr Infektionen pro Zeit, desto schneller ist der Effekt (oder Nicht-Effekt) eines Impfstoffs sichtbar. Was er mit klinischen Symptomen meint, weiß ich nicht. Eine Infektion mit dem HI-Virus ruft durchaus akute Symptome hervor und ich vermute, Teilnehmende der Studien werden auf solche Symptome achten.

„Und selbst wenn man Zigtausende Probanden in die Studie einbezogen hätte, wäre der adverse Effekt nicht früher sichtbar geworden. Um ihn festzustellen, mussten die Probanden eineinhalb Jahre beobachtet werden.“

Wird hier die Quelle meiner Verwirrung deutlich? Entweder tritt der Effekt INNERHALB von 18 Monaten auf und ist, je nach Infektionsgeschehen, bereits früh sichtbar oder er wird NACH 18 Monaten sichtbar. Beides zusammen ergibt keinen Sinn. Im Lichte der SARS-CoV-2 Impfstoffe lässt sich die Wirksamkeit aktuell (durch das massive Infektionsgeschehen in der Pandemie) schnell überprüfen. Man könnte daher darüber spekulieren, ob überhaupt noch einer der Impfstoffe, die in Studien geprüft werden, es zur Zulassung schaffen, weil es bereits so gute Impfstoffe gibt.

„Was der Impfstoff auslöste, wurde erst sichtbar, nachdem genügend Zeit verstrichen war.“

Der Impfstoff löste nichts aus. Das war ja genau das Problem. Mit „genügend Zeit“ kann in diesem Kontext nur „mindestens 18 Monate“ gemeint sein, sonst ergibt die ganze Argumentation keinen Sinn.

„Hätte man diesen Impfstoff nach wenigen Monaten der klinischen Testung im teleskopierten Verfahren zugelassen, wie es bei SARS-CoV-2 nun geschehen ist, hätte man diese Langzeitfolge vor der Zulassung nicht feststellen können.“

Stimmt und stimmt nicht. Den HIV-Impfstoff hätte man nach so kurzer Zeit nicht zulassen können, weil seine Wirksamkeit noch gar festgestellt werden konnte. Fehlende Wirksamkeit – ich wiederhole mich – ist aber etwas anderes als Langzeitfolgen.

„Es ist falsch und fahrlässig, wenn Interessenvertreter und manche Medienvertreter seit dem Auftreten von COVID-19 den Eindruck vermitteln, die teleskopierte Impfstoffsicherheit führe nicht zu einem erhöhten Risiko, dass man adverse Effekte, die sich nur durch Langzeitbeobachtung und langfristige Auswertungen feststellen lassen, übersehen kann. Diese Behauptung muss aus wissenschaftlicher Sicht scharf zurückgewiesen werden.“

Falls diese „Behauptung“ aus „wissenschaftlicher Sicht scharf zurückgewiesen werden“ muss, eignet sich die von Arvay angeführte Studie nicht dazu. 

In der Hoffnung, der Kritik angemessen gerecht geworden zu sein, nun weiter im ursprünglichen Text.

1 Das ist insofern merkwürdig, weil genau diesen Punkt der Arzt Dr. Hagedüs in einer Videoantwort auf Herrn Arvay kritisiert (ab 8‘16min).

[Ergänzung Ende]

Die AutorInnen des Briefes, auf den Arvay verlinkt, stellen selbst nicht den Impfstoff als solchen in Frage. Sie wollen auf mögliche Einschränkungen in der Nutzung eines der chinesischen Vektorimpfstoffe hinweisen. Eine Autorin macht sich so auch Gedanken darüber, wie Impfstoffe angemessen und sicher verteilt werden können und verschweigt auch die mögliche Einschränkung nicht.

Arvay führt eine weitere Studie an, um „Langzeitbeobachtungen“ zu fordern, bevor die Impfstoffe großflächig eingesetzt werden:

„Auf den Philippinen häuften sich 2015, kurz nach dem Start eines vektorbasierten Impfprogramms gegen das Dengue-Fieber, die Fälle von geimpften Kindern, die einen besonders schweren Verlauf der Infektionskrankheit aufwiesen. Das Impfprogramm musste abgebrochen werden. Zwar kann man daraus keine unmittelbaren Schlüsse hinsichtlich der Vektorimpfstoffe gegen SARS-CoV-2 ziehen, jedoch äußern Wissenschaftler seither immer wieder die Bedenken, dass Vektorimpfstoffe zu adversen, also gegenteiligen Effekten führen könnten, beispielsweise indem sie die Bildung sogenannter infektionsverstärkender Antikörper anregen.“

Was Arvay nicht sagt, was aber wichtig ist, um das Phänomen zu verstehen: Bei Dengue ist das Phänomen, dass die erste Infektion mild verläuft und die zweite schwer verlaufen kann, genau das Problem, was Dengue so gefährlich macht. Und es ist dieses Phänomen, das es so schwer macht, dagegen zu impfen. Bei Dengue ist ein Antibody-dependent enhancement (ADE, deutsch „infektionsverstärkender Antikörper“, s. o.) der Erkrankung inhärent, was auch beim Impfstoff auftritt. Das hat aber nichts mit Vektorimpfstoffen zu tun, deren angebliche Gefahren Arvay mit diesem Beispiel nachzuweisen versucht. Die Effekte treten auch sehr bald nach der Impfung zutage, so dass man keine Langzeitbeobachtung benötigt. Im NDR Podcast „Das Coronavirus Update“ wurde das von Prof. Drosten sehr ausführlich erklärt (Stand 27.10.2020 8/16 NDR.DE/CORONAUPDATE) .

Unter einem seiner Youtube-Videos verlinkt Arvay diesbezüglich auf einen Text, in dem der Hersteller Sanofi selbst auf das Problem hinweist und vom eigenen Impfstoff Abstand nimmt. Das spricht aus meiner Sicht eher gegen bösartige Absichten und eine große Verschwörung, vielmehr für Sorgfalt und Verantwortung..

Experten die keine Experten sind

Der weiter oben angeführte Hamish Duncan ist Gastroenterologe und hat, soweit ich das herausfinden konnte, kein Spezialwissen, dass seine Ansicht relevanter machen würde als meine. Viel zu sagen hatte er ja ohnehin nicht, darum frage ich mich, wieso Arvay ihn zitiert.

Ein weiterer vermeintlicher Experte, den Arvay anführt ist John Classen. Hier das Zitat dazu:

„Angesichts der bereits vorliegenden Erfahrungen mit adversen Effekten, die nur durch Langzeitstudien greifbar sind, erscheint es als schwer mit dem Vorsorgeprinzip vereinbar, an den teleskopierten Testverfahren festzuhalten. (…) Dass Impfungen zu zeitverzögerten adversen Effekten und Krankheitszuständen führen können, ist seit Langem bekannt und wurde bereits 1999 im renommierten „British Medical Journal dokumentiert, wo der Immunologe und Infektiologe John Classen forderte: »Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass die Öffentlichkeit vollständig darüber informiert werden soll, dass Impfstoffe, auch wenn sie in der Prävention von Infektionskrankheiten effizient sind, nachteilige Langzeitwirkungen haben können. Eine informierte Öffentlichkeit wird vermutlich angemessene Sicherheitstests verlangen, bevor die breite Immunisierung beginnt. Wir glauben, dass dies der Weg zu sicheren Impfstoffen ist.« Zum Zeitpunkt dieser Aussage war Classen einer der Herausgeber des British Medical Journal. Später entwickelte er sich zu einem wissenschaftlichen Vertreter der Impfkritik und sieht sich seither starkem Gegenwind ausgesetzt. Das schmälert aber seine Aussagen aus dem Jahr 1999 nicht, die in einer der wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden und auf Studien gestützt waren.“

Dass Classen jemals Mitherausgeber des BMJ war, kann ich mir nur schwer vorstellen, eine Bestätigung dafür habe ich nicht gefunden. Um Classen einordnen zu können, zitiere ich mich an dieser Stelle einmal selbst:

„John Barthelow Classen ist CEO von Classen Immunotherapies. Das Unternehmen hat zum einen Patente auf alternative Impfpläne und klagt gegen Unternehmen, um diese Patente durchzusetzen. Er hält Patente, die dazu dienen, Studien durchzuführen, in denen die Sicherheit von Impfungen festgestellt werden soll sowie Patente, um Impfnebenwirkungen festzustellen (15).“

Classen verdient sein Geld mit Immuntherapien, die dort wirken sollen, wo Impfungen angeblich geschadet haben.“

Tom Jefferson, der auch von Arvay als Kronzeuge angeführt wird, ist ein streitbarer Experte für Epidemiologie und Editor für die Cochrane Collaboration. Jefferson hat 1999 einen für Classen fachlich desaströsen Kommentar veröffentlicht, in dem er ihm nachgewiesen hat, Unsinn zu angeblichen Nebenwirkungen einer Kindheitsimpfung zu verbreiten.

Classen ist kein Experte sondern ein Scharlatan, der wissenschaftlich nicht ernst genommen werden und vor dessen Behauptungen nur gewarnt werden kann. Ein kurzer Blick auf seine Wikipediaseite hätte für diese Einschätzung genügt.

Nontext 

Arvay erwähnt zwar, dass der AstraZeneca-Impfstoff nicht denselben Vektor verwendet wie in der HIV-Studie, aber das geht weitgehend in seinen sehr ausführlichen und teilweise redundanten Ausführungen zu angeblichen Langzeitrisiken unter. Eine differenzierte Betrachtung und klinische Einordnung der unterschiedlichen Vektorimpfstoffe findet durch Arvay nicht statt, was von ihm selbst doch eindringlich gefordert wird.

Arvay behauptet, in Impfstudien würde IMMER ein Placebo in der Kontrollgruppe genutzt. Das ist nicht korrekt. Diese Tatsache wird von Impfgegnern oft sogar kritisiert. Sie beschweren sich oft, dass es „keine Studien“ gäbe, in denen Impfstoff mit Placebo verglichen würden. In unserem Buch „Faktencheck Impfen“ gehen wir diesem Mythos auf den Grund. Ob in einer Impfstudie ein Placebo, ein aktives Placebo (ein Placebo, dass eine lokale Impfreaktion hervorruft) oder ein anderer Impfstoff genutzt wird, führt jeweils zu verschiedenen Vor- und Nachteilen. Für die ethische Nutzung von Placebos in Impfstudien hat die WHO Mindeststandards festgesetzt

„Es gibt zudem zahlreiche Studien, in denen die Wirksamkeit einzelner Impfstoffe mit Placebo verglichen wird. Diese Studien geben auch Informationen über die Unterschiede in der Gesundheit der Kinder. Die WHO hat allerdings Bedingungen formuliert, unter denen die Nutzung von Placebo in Impfstudien zu vertreten ist. Zum einen darf es zum Zeitpunkt der Studie keinen Impfstoff gegen die Erkrankung geben (wie bei COVID-19) und zum anderen muss der Impfstoff für die Bevölkerungsgruppe gedacht sein, in der sie getestet wird.“
Aus „Faktencheck Impfen“

Arvays Aussage zu den Placebos in Impfstudien bestärkt mich in dem Eindruck, dass er nicht die notwendigen Kompetenzen hat, um das Buch zu schreiben, das seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden würde. Dazu passt ein weiterer Fehler: 

„Der Meningokokken-Impfstoff hat im Verhältnis zu einem Placebo wahrscheinlich eine höhere Reaktogenität, das heißt, er erzeugt relativ häufig akute Nebenwirkungen zeitnah nach der Impfung, die sowohl lokal als auch systemisch, also im gesamten Organismus, auftreten können.“

Die Reaktogenität beschreibt die Fähigkeit eines Impfstoffes, das Immunsystem zu aktivieren. Eine hohe Reaktogenität bedeutet viel Aktivität des Immunsystems und damit eine stärkere Impfreaktion. Eine Impfreaktion ist keine Nebenwirkung. Eine Impfreaktion ist genau das, was wir von einem Impfstoff wollen. An anderer Stelle entsteht der Eindruck, Reaktogenität und Nebenwirkung könnten synonym verwendet werden („Für die festgestellten Nebenwirkungen (Reaktogenität) des Oxford-Impfstoffs“), was auf ein erschreckendes Maß an Unkenntnis für den Sachbuchautoren eines Impfbuchs hindeutet. 

Ignorierter Nutzen.

Arvay erwähnt die Sterblichkeit von Covid-19 nur an einer Stelle: 

„In der medizinischen Fachzeitschrift Der Arzneimittelbrief gaben die Verfasser im November 202097  zu bedenken: »Wenn man von einer Letalität bei COVID-19 von im Median ca. 0,05 Prozent bei den Unter-70-Jährigen weltweit ausgeht, wird es sehr schwer, in dieser Gruppe überhaupt einen Nutzen eines Impfstoffs nachzuweisen.“ 

Diese Zahl dient ihm dazu, zu belegen, dass man gar nicht herausfinden könne, ob der Impfstoff Menschen unter 70 Jahren schütze. Auch hier zitiert er selektiv und macht das, was er anderen vehement vorwirft: Er ignoriert die wissenschaftliche Debatte um die Sterblichkeit von Covid-19 und die komplexen Faktoren, die Einfluss darauf haben. Er stellt auch die Erkrankung Covid-19 in ihrer klinischen Erscheinung nicht dar. Weder was eine Lungenentzündung bedeutet noch die Möglichkeit und Belastung einer maschinellen Beatmung oder die Gefahr von Langzeitfolgen werden erwähnt. Kurz: Er ignoriert die enorme Krankheitslast, die durch Covid-19 verursacht wird und die durch Impfungen zu reduzieren gilt. Impfungen sind nicht nur geeignet, um Todesfälle zu verhindern. Dafür wird im Kapitel „Die Biologie des Virus“ ein Blick durch das Mikroskop auf die Zellebene geworfen, das wirkt angesichts der fehlenden Darstellung des realen klinischen Bildes von Covid-19 unangemessen unempathisch und kalt. In dem Kapitel erfahren wir dafür immerhin, dass Rauchen das Risiko eines schweren Verlaufs erhöht und Elektroaerosole, die im Wald oder an Wasserfällen entstehen sollen angeblich gut für das Flimmerepithel der Atemwege sind.

Arvay geht über die Krankheitslast und das durch die Pandemie erzeugte menschliche Leid hinweg und kann so nicht angemessen das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko der Impfstoffe darstellen. Ohne dieses Verhältnis zu kennen, ist eine rationale Entscheidung über eine Impfung (oder jede andere medizinische Intervention) nicht möglich.

Arvay exploriert zwar ausführlich angebliche Risiken die neuen Impfstoffe ausgehen sollen. Dabei erwähnt er nicht, dass natürliche Infektionen fast alle diese Risiken ebenso bergen, in der Regel sogar noch deutlich größer. Die fehlende differenzierte Darstellung der bei jeder Impfstoffprüfung und -zulassung maßgeblichen Risiko-Nutzen-Abwägung ist ein gemeinsames Merkmal der meisten generell impfskeptischen Positionen.

Und noch was:

„Für die festgestellten Nebenwirkungen (Reaktogenität) des Oxford-Impfstoffs im Vergleich zum Meningokokken-Impfstoff gaben die Studienautoren, die übrigens zum überwiegenden Teil selbst an der Entwicklung oder Vermarktung des Impfstoffs beteiligt waren, einen p-Wert von <0,05 an. Das bedeutet, die Wahrscheinlichkeit, dass die beim Oxford-Impfstoff in Phase I/II festgestellte Häufung von Impfnebenwirkungen im Vergleich zum Meningokokken-Impfstoff ein Zufallsergebnis war, ist kleiner als 5 Prozent. Ein solches Ergebnis wird als statistisch signifikant bezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass dieser p-Wert bei einem Placebovergleich noch niedriger ausgefallen wäre. Je niedriger der p-Wert, desto signifikanter ist eine Abweichung. “ 

Das mag jetzt pedantisch wirken – aber Menschen, die auch nur einen Hauch von Statistik verstehen (und das würde ich gerade so für mich in Anspruch nehmen) können sich hier nur an den Kopf fassen. Ein Ergebnis ist entweder signifikant oder nicht. Das Signifikanzniveau wird in der Regel vor der Studie festgelegt, ein Wert von 5 % (oder 0,05) ist dabei in der Medizin vielfach üblich. Was das bedeutet, hat Arvay zwar ausreichend korrekt beschrieben. Ein Wert unter 0,05 macht das Ergebnis aber nicht “signifikanter”, das Signifikanzniveau wird entweder erreicht oder nicht. Es gibt keine Skala, auf der mehr oder weniger Signifikanz abzulesen wäre. Ich finde, ein Sachbuchautor, der mit anderen Forschern so hart ins Gericht geht, sollte solche Zusammenhänge ausreichend gut kennen, um sie vernünftig erklären zu können. Wenn er das nicht kann, kann er auch Studien nicht vernünftig bewerten. Und wer das nicht kann, sollte sich von wissenschaftlichen Herkulesaufgaben, die gesundheitliche Entscheidungen anderer Menschen beeinflussen, fernhalten. Vielleicht in der Nähe eines Wasserfalls. Elektroaerosole sollen gut für das Flimmerepithel sein.

Hier geht es zum zweiten Teil dieser Buchkritik.


Autor: Dr. med. Jan Oude-Aost


Bildnachweis: Pixabay License

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