„Impfen Pro & Contra:
Das Handbuch für die individuelle Impfentscheidung“ von Dr. Martin Hirte
Eine Analyse
Neunter Teil -“Pharmaindustrie und Forschung”
Hirte schreibt in diesem Kapitel viel Richtiges. Er zieht jedoch wiederum Schlüsse, die weiter gehen, als die Fakten es zulassen. Er sammelt Informationen über den Forschungsbetrieb, die er nutzen kann, um seine These – Impfungen seien nicht ausreichend erforscht – zu unterstützen.
Medizinische Forschung und ärztliche Fortbildung werden in erschreckendem Umfang von Pharmaherstellern beeinflusst und manipuliert. Die höchste Priorität haben hierbei die Zulassungsstudien, die für die Bewertung und Vermarktung von neuen Arzneimitteln entscheidend sind. Ausmaß und Folgen der dabei üblichen Manipulationen sind seit Jahren Gegenstand der medizinischen Forschung. Auch die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft hat sich mit dem Thema beschäftigt und eine Übersicht im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht, die für jeden im Internet abrufbar ist (Schott 2010). (Seite 39)
Die von Hirte angeführten Texte belegen doch, dass man sich des Problems bewusst ist. Stellt das nicht auch Hirtes Implikationen aus dem Kapitel „Interessenkonflikte“ stark in Frage? Auch an dieser Stelle weise ich erneut auf die Initiative alltrials.net hin, die sich um mehr Transparenz in der Arzneimittelforschung bemüht und langsam aber sicher dicke Bretter bohrt. Ebenso verweise ich erneut auf das großartige Buch, mit dem fürchterlichen Titel „Die Pharmalüge“. Darin legt Ben Goldacre sehr differenziert dar, an welchen Stellen die Probleme liegen und wie man sie lösen kann. In der Ausgabe von 2018 zitiert Hirte selbst Goldacre in seinem Sinne.
Ich bin sonst ja eher zurückhaltend mit „whataboutism“, aber an dieser Stelle finde ich ihn passend, weil Hirte erneut mit zweierlei Maß misst. Ohne das Problem der echten Pharmaindustrie kleinreden oder Vorgänge in der Medizin schönreden zu wollen, aber machen Weleda und die DHU das nicht auch so?
Mindestens ein Drittel der Wissenschaftler, die in großen Fachzeitschriften Artikel veröffentlichen, nehmen durch ihre Forschungsarbeit auch eigene finanzielle Interessen wahr: Teils haben sie Patentrechte an ihrem Forschungsgegenstand, teils halten sie Aktien oder andere Beteiligungen an Firmen, deren Produkte untersucht werden – und das, ohne die Herausgeber der Zeitschrift oder die Öffentlichkeit darüber zu informieren (Krimsky 1996). (Seite 40)
Erneut fällt auf, dass Hirte es mit den Maßstäben, die er anlegt, nur dort genau nimmt, wo es ihm nützt. So hatte Andrew Wakefield das Patent auf einen Masernimpfstoff, der wahrscheinlich vermarktbar gewesen wäre, hätte man den MMR-Impfstoff, den er in einer gefälschten Studie infrage gestellt hatte, zurückgezogen. Wakefield ist Hirte aber eine Quelle wert. Auch Mark und David Geier, deren Studien Hirte ausführlich zitiert, vermarkten ihre „Heilung“ für Autismus in den USA und halten Patente, diese „Heilung“ betreffend. Ähnliches gilt für John Classen, der ein eher skurriles Patent innehat (wir kommen dazu) und ebenfalls von Hirte wohlwollend zitiert wird. In all diesen Fällen scheint Hirte kein Problem damit zu haben, dass es massive Interessenkonflikte gibt. Doch es gibt etwas viel Wichtigeres zu diesem Absatz. Auch hier vereinfacht Hirte die Aussage so sehr, dass sie falsch wird. Krimsky hatte sich in dem zitierten Paper Veröffentlichungen aus dem Jahr 1992 angesehen. 1995 trat jedoch in den USA ein Gesetz in Kraft, das vorschreibt, dass Interessenkonflikte öffentlich gemacht werden müssen. Das bedeutet, in Veröffentlichungen aus den USA nach dem Jahr 1995 wird genau das, was Hirte behauptet, nicht mehr gemacht. Das hätte Hirte auch wissen können, denn diese Angaben stehen im Abstract des Papers. Ähnliche Vorgaben zu Interessenkonflikten sind heute Standard.
Das Verschweigen negativer Studien führt zu einer eklatanten Fehleinschätzung der Wirkung von Arzneimitteln. Im Januar 2012 widmete das British Medical Journal ein ganzes Heft diesem Problem. Gerd Antes vom Deutschen Cochrane-Zentrum sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zu dieser selektiven Publikation von Studien: »Die Bewertungen von diagnostischen und therapeutischen Verfahren beziehen sich nur auf die Hälfte aller durchgeführten Studien – und das in einer äußerst irreführenden Weise« (SZ 2012). (Seite 40)
Erneut macht sich Hirte ein Problem zu eigen, welches in der gesamten Medizin thematisiert wird. Wenn das BMJ dem Thema ein Heft widmet, scheint das Problem ernst genommen zu werden. Hirte gelingt es hier nicht, zu belegen, dass das Problem von unveröffentlichten Studien bei Empfehlungen der STIKO relevant (1) ist. Ich klinge zwar inzwischen wohl wie eine kaputte Schallplatte, doch auch hier legt Hirte unterschiedliche Maßstäbe an, denn für alternativmedizinische Methoden, denen sich Hirte verschreibt, ist das Problem ungleich größer.
Diese Art von Wissenschaftsmanipulation verzerrt in der Folge auch die sogenannten »Reviews«, bei denen eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten zu bestimmten Themen in einer Art Übersicht zusammengefasst und in ihrer Aussagekraft beurteilt wird. Ein Beispiel ist die wissenschaftliche Übersicht (Review) von Tom Jefferson über die Nebenwirkungen von Aluminium. Er fand 35 Studien zu dem Thema, bezog aber nur fünf in seine Untersuchung ein, in denen lediglich örtliche Nebenwirkungen untersucht worden waren. Nach einem Vergleich dieser fünf Studien befindet er das Aluminium als unproblematischen Inhaltsstoff und meint schließlich: »Trotz eines Mangels an Beweismaterial von guter Qualität empfehlen wir nicht, dass zu diesem Thema weitere Forschung durchgeführt wird« (Jefferson 2004). (Seite 41)
An anderer Stelle in diesem Buch nutzt Hirte Aussagen von Reviews, um seine Sicht der Dinge zu belegen. Erneut zeigt Hirte, dass er Wissenschaft dort nutzt, wo sie seine Argumentation bestätigt und dort ignoriert, wo sie es nicht macht. In diesem Beispiel anhand eines einzigen Autors: Die Bewertungen von Jefferson tauchen mehrfach in seinem Buch auf. Jefferson kam öfter zu Schlussfolgerungen, die Hirtes Sicht der Dinge unterstützen. Dort zitiert er Jefferson und scheint ihn für wissenschaftlich integer genug zu halten, um dessen Ergebnisse ernst zu nehmen. Doch beim Thema „Aluminium“ – welches aktuell ein wichtiger Baustein der Impfskepsis ist – kommt Jefferson zu Ergebnissen die Hirte nicht passen und wird ignoriert. Dazu passt auch der folgende Absatz:
Diese Art »Forschungsmotivation« muss mit der Akribie und dem Enthusiasmus verglichen werden, mit denen Komplikationen von Krankheiten gesucht und veröffentlicht werden. Bis heute ist über die Auswirkungen der Aluminiumbelastung von Säuglingen und Kleinkindern durch die ausufernden Impfprogramme so gut wie gar nichts bekannt.
Hirte unterstellt hier, dass bei Wissenschaftler auf der einen Seite bei den Inhaltsstoffen von Impfstoffen nicht so genau hinsehen und mindestens fahrlässig in Kauf nehmen, dass Menschen zu Schaden kommen. Auf der anderen Seite versuchen sie jede noch so kleine Komplikation von Krankheiten zu finden, damit der Schrecken von Krankheiten deutlich gemacht werden kann. Die Motivation der WissenschaftlerInnen dafür? Vermutlich Geld. Ich stelle mir die Welt, in der Hirte sich erlebt, ziemlich trostlos vor, wenn seiner Ansicht nach jede/r für ein wenig Geld (und so gut verdienen ForscherInnen auch nicht) oder gar Drittmittel mutwillig Menschen über die Klinge springen lässt. Meine LeserInnen mögen sich die Frage stellen, wieviel Geld man ihnen bieten müsste, damit sie absichtlich in Kauf nehmen, anderen Menschen mit ihrer Arbeit zu schaden?
Doch zur Behauptung, über die Folgen von Aluminium in Impfungen wisse man „So gut wie gar nichts“. Das Paul-Ehrlich-Institut hat der Frage zu Aluminium und Impfungen eine eigene Seite gewidmet. „So gut wie gar nichts“ wäre in meinen Augen deutlich weniger.
Ich stelle mir die Frage, ob Hirte sich mit der Antwort zufriedengeben würde, wenn es hieße, es gäbe kein Problem, da es keine nachweisbaren Schäden durch Aluminium in Impfungen gibt? Er würde dann vermutlich entgegnen, dass man wohl nicht richtig nachgeschaut habe. Dann sind wir jedoch nahe am Bereich einer Verschwörungstheorie.
Hirte baut auch in diesem Kapitel an dem Fundament, welches er benötigt, um später im Buch seine Behauptungen glaubhaft zu machen. Er zeichnet ein Bild der Pharmaindustrie, welches in Teilen der Realität durchaus nahekommt und überträgt dieses auf Impfungen. Auf alle Impfungen – und vor allem auf die Institutionen, die dafür sorgen sollen, dass unsere Impfungen wirksam und sicher sind.
Je weiter wir im Buch voranschreiten, desto mehr muss ich mich entscheiden, welche Äußerungen von Hirte ich hier überhaupt erwähne. Zum einen wird es sonst unlesbar langwierig. Zum anderen ist auch meine Zeit auf diesem Planeten begrenzt und ich möchte nicht zu viel davon Herrn Hirte widmen.
(1) Damit meine ich, dass er nicht belegen kann, dass die Entscheidung der STIKO anders aussehen würde, wenn unveröffentlichte Daten vorhanden wären. Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass das so wäre. Impfstoffe werden nach der Einführung beobachtet, Beispiele dafür zeige ich in den vorangegangenen Kapiteln.