Höhepunkt der Veranstaltung zur von Jens Spahn vorgeschlagenen Masernimpfpflicht am 12.10.2019 im Berlin-Friedrichshainer „Kosmos“ war die Podiumsdiskussion. Jan Oude-Aost berichtet:

Folgende Diskutanten fanden sich auf dem Podium ein:

  • Prof. Dr. Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO)
  • Dr. Cornelia Hösemann, Mitglied der Sächsischen Impfkommission (SIKO)
  • Prof. Dr. Alexander Kekulé, Mikrobiologe und ehemaliger Berater der Bundesregierung
  • Dr. Jan Leidel, ehemaliger STIKO-Vorsitzender
  • Dr. Günter Pfaff, Vorsitzender der Verifizierungskommission der WHO für die Masernelimination in Europa
  • Prof. Dr. Stephan Rixen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht an der Universität Bayreuth
  • Dr. Steffen Rabe (impf-info.de)
  • Dr. Stefan Schmidt-Troschke, Geschäftsführender Vorstand des Patienten- und Bürgerverbandes
    GESUNDHEIT AKTIV – Anthroposophische Heilkunst e. V.

Prof. Rixen stellte zu Beginn ausführlich seine Argumente gegen das von Jens Spahn vorgeschlagene Gesetz zur Masernimpfpflicht vor. Dabei konzentrierte er sich auf die juristischen Probleme, die aus einer Impfpflicht resultieren und nicht auf Sinn oder Unsinn von Masernimpfungen. Der Verein „Ärzte für eine individuelle Impfentscheidung“, dessen Positionen wir vom INI-Blog in der Regel kritisch gegenüberstehen, hat auf seiner Website eine Zusammenfassung veröffentlicht. Eine detaillierte Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrages und meine Fähigkeiten übersteigen.

In den Startlöchern

Im Rahmen von fünf maximal 5 Minuten langen Vorträgen durften die Teilnehmenden ihre Positionen vor Beginn der eigentlichen Podiumsdiskussion deutlich machen. Die Positionen der Vortragenden waren wenig überraschend. Auffällig war, dass die SIKO-Vertreterin, die Gynäkologin Frau Dr. Hösemann, sich sehr auf die Rolle ihrer fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen bei der HPV-Impfung konzentrierte. Das wirkte auf dieser Veranstaltung etwas fehl am Platz und stieß bei dem sehr impfkritischen Publikum auf wenig Gehör und sorgte für Unruhe im Saal. Prof. Kekule, Mikrobiologe, hielt einen unterhaltsamen, in Details jedoch unpräzisen Vortrag. Für das anwesende Publikum waren Kekules Ausführungen in ihrer grundsätzlich bejahenden Einstellung zu Impfungen eine schwer zu schluckende Kröte. Herr Pfaff von der WHO wies darauf hin, dass eine Impfpflicht von einem Impfzwang unterschieden werden müsse. Emotional in Wallung brachte das Publikum seine Anekdote über die Schwere seiner eigenen Masernerkrankung als Kind. Dafür wurde er vom Publikum ausgebuht. Empathie schien hier eher Menschen, die in und durch ihr Krankheitserleben die eigene Weltsicht bestätigen, vorbehalten zu sein.
Nur wenige Teilnehmende sprachen sich für eine Masernimpfpflicht aus, unabhängig von ihrer Einstellung zu Impfungen allgemein.

Das Podium

In die Podiumsdiskussion startete Prof. Kekulé mit der Aussage, Impfgegner säßen Fakenews auf und Jens Spahn habe mit seinem Gesetz das „Terrain der Fakenews betreten“, ohne zu erklären, ob er damit meinte, Spahn sei „FakeNews“ aufgesessen oder habe „FakeNews“ nachgegeben. Prof. Mertens von der STIKO wies auf eine Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts dazu hin, dass eine Impfpflicht keine Alternative zu anderen notwendigen Maßnahmen sei. Er forderte, die Impfberatung in der ärztlichen Praxis besser zu honorieren. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird nur die Impfung selbst vergütet, eine ärztliche Beratung, der aufwendigste Teil, bleibt für die gesetzlichen Krankenkassen kostenlos. Für privat Versicherte kann eine Impfberatung dem Aufwand entsprechend abgerechnet werden.

Herr Pfaff entgegnete zu der Befürchtung, eine Masernimpfpflicht könne die Impfquote anderer Impfungen verringern, weil sie diese als „weniger wichtig“ erscheinen ließe, dass es dafür keine empirischen Belege gebe; eine Impfpflicht habe keinen negativen Einfluss auf Impfquoten. Um die Gefährlichkeit der Masern dem Berliner Publikum deutlich zu machen, verwies er auf 4.000 Tote im Rahmen eines kurz zurückliegenden Masernausbruchs im Kongo und erntete erneut eine ablehnende emotionale Reaktion des Publikums. Trotzigen Applaus erhielt hingegen Prof. Kekule für seine Aussage, die meisten Masernausbrüche in Deutschland seien nicht autochthon (Übertragung zwischen den Individuen, die dauerhaft in der Umgebung leben), sondern „eingeschleppt“. Keinen Applaus erhielt er für den Hinweis, bestimmte „Zellen“ der Bevölkerung, wie zum Beispiel „Steiner-Schulen“ würden auch durch eine Impfpflicht nicht erreicht. Herr Mertens stellte klar, dass es nach einem erst einmal stattgefundenen Import von Masern sehr wohl zu autochthonen Übertragungen komme. In Deutschland werde spät geimpft, darum gebe es immer Kinder unter 7 Jahren, die keinen ausreichenden Masernimpfschutz hätten. Herr Rabe wies darauf hin, dass die meisten Länder später als Deutschland impfen.

Die unterschiedlichen Empfehlungen zum Impfzeitpunkt werden von Impfkritikern immer wieder als ein Beleg dafür angeführt, dass die Empfehlungen der STIKO nicht wissenschaftlich seien und nicht ernst genommen werden müssten. Herr Pfaff erklärte dazu, dass diese Unterschiede auch historische Gründe hätten. So hätten in vielen Staaten des früheren Ostblocks die Menschen weniger Bewegungsfreiheit gehabt und weniger Menschen seien zugereist. Aus diesem Grund sei es bei einer hohen Durchimpfungsrate der lokalen Bevölkerung nicht notwendig gewesen, Kinder möglichst früh zu impfen. Darüber hinaus sei es ein nicht unerhebliches logistisches Problem, heute alle Impfungen vorzuziehen. Vielen Staaten fehlten dazu die finanziellen Ressourcen.

Anhand solcher Details hätte das Publikum an diesem Abend feststellen können, wie viele Aspekte beim Thema Impfungen zu bedenken sind und wieviel Expertise Menschen benötigen, um sich kompetent dazu zu äußern. Mir wurde während Gesprächen mit Experten in den Pausen zumindest immer wieder deutlich, wie oberflächlich ich mich selbst trotz ziemlich intensiver Befassung nur mit der Materie auskenne.

Lobend erwähnte Herr Pfaff die Gesellschaft der anthroposophischen Ärzte (GAÄD), weil er dort einen Einstellungswechsel beobachte, hin zur Akzeptanz des Zieles der Eliminierung der Masern. Dieser Einstellungswechsel werde auch in den Merkblättern der GAÄD zum Thema deutlich, werde jedoch in der Regel nicht von den Menschen geteilt, die von anthroposophischen Ärztinnen und Ärzten betreut werden.

Herr Schmidt-Troschke wechselte, für mich relativ unvermittelt, das Thema und stellte fest, dass „Vertrauen“ beim Thema Impfen wichtig sei und dass Kinderärzte Eltern diesbezüglich nicht gut berieten. Auch dies ist eine oft wiederholte Behauptung von Impfkritikern, sie wird auch von Herrn Hirte in seinem Buch angebracht. Belege für ein insoweit systemisches Problem bleiben beide schuldig, Befragungen zeigen eher das Gegenteil: Die große Mehrheit der Eltern ist zufrieden mit der Beratung. Herr Schmidt-Troschke fuhr fort, die Beratung durch die Kinderärzte liege auch in der Verantwortung der STIKO, außerdem werde nicht über die „problematischen Seiten des Impfens“ gesprochen. Auch dieses angebliche Schweigekomplott des medizinischen Establishments wird immer wieder behauptet, Belege fehlen. Leidenschaftlich, beinahe aufgebracht, berichtete Herr Schmidt-Troschke von „Leuten“ die in seine Praxis kämen und „traumatisiert“ von ihrem Arztbesuch seien. Ohne verneinen zu wollen, dass so etwas möglich ist, halte ich das für eine deutlich überzogene Darstellung, die aus der vorher sachlichen Diskussion unangenehm herausstach. Als Therapeut von Menschen mit echten Traumatisierungen möchte ich darauf hinweisen, dass ein Zusammentreffen mit wenig empathischen Ärztinnen und Ärzten allein kein „Trauma“ darstellt. Herr Schmidt-Troschke schien es jedoch gar nicht um Sachlichkeit zu gehen, fuhr er doch fort mit der Behauptung, es gebe eine „Diffamierung von kritischen Leuten“ die sich mit Impfungen beschäftigen „wie mit jeder anderen medizinischen Maßnahme auch“. Kinderärzte, so Schmidt-Troschke, „bekleckerten sich nicht mit Ruhm“.

Herr Mertens konnte den Vorwurf in Richtung STIKO nicht verstehen und verwies auf die detaillierten Veröffentlichungen mit den wissenschaftlichen Begründungen zu den einzelnen Impfungen, Ärzte müssten diese nur lesen. Er fragte jedoch gleichzeitig, was die STIKO zusätzlich machen könne. Aus dem Publikum rief jemand „Interaktiv“. Mertens musste etwas lächeln und verwies auf die geringe Größe der STIKO und bezeichnete sie als „kleinen Betrieb“. Er verwies darauf, dass die Mitgliedschaft in der STIKO ein Ehrenamt sei, ein Stichwort, das aus dem Publikum mit dem Zwischenruf „Gesponsert“ bedacht wurde. Herr Mertens war gleichwohl höflich genug, auf den Hinweis zu verzichten, dass es nicht die gesetzliche Aufgabe des Robert-Koch-Instituts (dort ist die STIKO angesiedelt) ist, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren, sondern für Fachpersonal Informationen zur Verfügung zu stellen. Für die Aufklärung der Öffentlichkeit ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) zuständig. Die hatte jedoch niemanden auf der Bühne. Aus gutem Grund: An diesem Abend sollte es um das Für und Wider der Impfpflicht gehen, nicht um Probleme, die Mitglieder impfkritischer Vereine mit Impfungen und deren Durchführung haben. Doch durch seinen leidenschaftlichen Ausbruch hatte Herr Schmidt-Troschke dafür gesorgt, dass die Diskussion sich plötzlich um die Rolle der STIKO und angeblich schlecht beratende Kinderärzte drehte.

Herr Rabe sagte vermittelnd, er sehe den „Ball im Feld“ der Kinderärzte und stand damit in leichtem Widerspruch zu Schmidt-Troschke. Die Diskussion wurde dennoch wieder deutlich sachlicher. Dem kritischen Hinweis von Herrn Rabe, auf „dem HPV-Merkblatt“ seien allerdings keine „Cons“ (im Sinne von Gegenargumenten oder „problematischen Seiten“) der Impfung erwähnt, entgegnete Mertens, das Merkblatt sei auch nicht von der STIKO, sondern vom Robert-Koch-Institut veröffentlicht worden.

Questions and Answers

An diesem Punkt wurde die Runde für die Fragen des Publikums geöffnet. Diese waren vorher auf Zetteln eingesammelt worden und wurden ausgewählt vorgetragen.

Auf die Frage, warum es keinen monovalenten Masernimpfstoff (in Deutschland ist nur die Masern-Mumps-Röteln-Kombinationsimpfung zugelassen) in Deutschland gebe, verwies Herr Pfaff auf das mangelnde Interesse der „Arzneimittelindustrie“, einen Impfstoff, der nur ein Nischendasein fristen würde, in Deutschland zur Zulassung zu bringen. Auch hier erzeugte er treffsicher lauten Unmut im Publikum. Herr Kekule stellte etwas unvermittelt die Behauptung auf, „die Unternehmen“ seien viel „mächtiger als die Politiker“, schließlich müssten Unternehmen nur „vier Jahre warten“, dann gäbe es “einen Neuen”. Diese populistische Vereinfachung beruhigte die Gemüter im Publikum wieder und gab Herrn Rixen die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass ein monovalenter Impfstoff mit genug politischem Willen schnell einzuführen sei.

Die Frage, ob die Masern vielleicht längst eliminiert seien, man das nur nicht wüsste, beantwortete Herr Mertens. Da ohnehin nur wenige Masernfälle gemeldet würden (schlechtes Reporting), dürfte die erfasste Zahl zu tief liegen. Wenn es keine Masern mehr gäbe, „wüssten wir das“. Er sprach sich auf die Nachfrage von Herrn Rabe, was man für ein besseres „Reporting“ unternehmen könnte, für einen Ausbau der „Surveillance“ aus, wurde jedoch aufgrund des Zeitmangels nicht konkreter. Einige Frage waren von den Anwesenden nicht gut zu beantworten, weil sie eher den politischen Bereich betrafen. Von Seiten der Moderatorin wurde kritisch angemerkt, dass sich kein Politiker und keine Politikerin dazu hatte bewegen lassen, an der Veranstaltung teilzunehmen.

Und nun?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für eine Podiumsdiskussion, deren Anlass und Gegenstand eine geplante Masernimpfpflicht war, eigentlich zu oft um eher allgemeine Fragen von Impfungen, Kritik an Institutionen wie dem RKI und der STIKO sowie von Kinderärztinnen und Kinderärzten ging. An der einen oder anderen Stelle entstand für mich der Eindruck, die Bühne sei von Herrn Schmidt-Troschke genutzt worden, um in anthroposophischen und impfkritischen Kreisen oft angebrachte Behauptungen an dieser prominenten Stelle zu platzieren. Von der Moderatorin wäre hier eine Fokussierung wünschenswert gewesen.

Im letzten Teil werde ich die Veranstaltung selbst noch einmal bewerten und versuchen darzustellen, warum ich sie in dieser Form für problematisch halte.


Die Aufzeichnung der Podiumsdiskussion gibt es auf dem Youtube-Kanal des Vereins für eigenverantwortliche Impfentscheidung e.V. (Link)


Collage-Bilder von martinlaeger und  OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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