Zur Kapitelauswahl
Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel

 

„Impfen Pro & Contra:
Das Handbuch für die individuelle Impfentscheidung“ von Dr. Martin Hirte
Eine Analyse

 

Dritter Teil -“Impfen: Moralische Verpflichtung?”

 

Der Titel macht klar, worum es Hirte geht. Er stellt erst die These auf, Impfen würde zu einer moralischen Verpflichtung gemacht, um diese dann zu widerlegen. Er beginnt mit einer Bestandsaufnahme.

 

„Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut in Berlin empfiehlt für die ersten zwei Lebensjahre, beginnend mit dem Alter von acht Wochen, einen umfangreichen Impfkalender mit derzeit (2012) zwölf Impfstoffen, die in bestimmten Abständen und Kombinationen mehrfach verabreicht werden sollen (…). Bis zum 15. Lebensmonat summiert sich das auf derzeit 37 Einzelimpfstoffe. Ähnliche Impfpläne gibt es in der Schweiz und in Österreich.“ (Seite 15)

 

Mir ist unklar, was er in diesem Absatz sagen möchte. Bis zum 15. Lebensmonat wird gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Poliomyelitis, Hepatitis B, Haemophilus Influenza B, Pneumokokken und Rotaviren geimpft. Außerdem gegen Meningokokken C, Masern, Mumps, Röteln, und Windpocken. Pneumokokken und Rotaviren werden bis zum 15. Lebensmonat je dreimal geimpft (Rotaviren werden in den Mund getropft), Meningokokken C, Masern, Mumps, Röteln, und Windpocken einmal, alle anderen vier mal. Das ergäben, würde jede Impfung einzeln injiziert, 32 Injektionen und 3 Schluckimpfungen (zusammen 35). Durch Kombinationsimpfstoffe reduziert sich das auf 9-10 Injektionen und 3 Schluckimpfungen. Damit wird gegen 13 Erkrankungen immunisiert. Aus immunologischer Sicht ist jedoch nicht die Zahl der „Impfstoffe“ wichtig, sondern die Anzahl der darin enthaltenen Antigene. Jedes zusätzliche Antigen erhöht das theoretische Risiko von Nebenwirkungen, darum ist das Ziel, die Anzahl der Antigene möglichst klein zu halten. Erfreulicherweise hat sich die Anzahl der Antigene durch Verbesserungen in der Impfstoffherstellung in den letzten Jahrzehnten verringert. Trotzdem seien hier ein paar Zahlen genannt, um die „Belastung“ des Immunsystems durch Impfungen in eine Perspektive zu setzen:

 

  • Der Mensch kann ca. 10.000.000.000 verschiedene Typen (1) von Antikörper herstellen (2).
  • Davon werden ca. 1.000.000 bis 100.000.000 Typen hergestellt und genutzt (3).
  • In jedem Kubikmeter Luft befinden sich zwischen 1,6 und 40 Millionen Viren und zwischen 860.000 und 11 Millionen Bakterien.

 

Wenn ein Mensch 80 Jahre alt wird und am Ende des Lebens gegen 1.000.000 Antigene passende Antikörper gebildet hat, muss er jedes Jahr 12.500 Antikörper bilden (4). Das entspricht 34 Antikörpern pro Tag. Wenn man nach 80 Jahren 10.000.000 Antikörper hat, 340, und wenn man 100.000.000 hat, 3.400. Unser Immunsystem ist also ohne Probleme in der Lage, jeden Tag Antikörper gegen 34 bis 3.400 verschiedene Antigene zu produzieren. Durch Impfungen werden bis zum 15. Lebensmonat insgesamt Antigene gegen 13 Erkrankungen injiziert. In derselben Zeit stellt unser Immunsystem gegen 14.280 bis 1.428.000 Antigene Antikörper her, die nicht durch Impfungen in den Körper gelangten.

 

Die Antigenanzahl kann also nicht das Problem sein. Da Hirte die Zusatzstoffe an anderer Stelle ausführlich bespricht, werde ich das auch an anderer Stelle tun.

 

Hirte schreibt auf derselben Seite, das Ziel von Impfungen sei „die Vermeidung von statistisch zu erwartenden Todesfällen und Krankheitskomplikationen“. Das ist eine interessante Formulierung. Es klingt beinahe so, als müsse man sich um Dinge, die statistisch zu erwarten seien, keine Sorgen machen. Wenn jemand statistisch die Chance von 50% hat, zu sterben, wäre einer von zwei Menschen ein „statistisch zu erwartender Todesfall“. Der Unterschied zum Impfen ist, dass das Risiko, mit einer „Kinderkrankheit“ infiziert zu werden, geringer und damit für viele abstrakter ist. Es ist für den Einzelnen nicht so hoch und wurde durch Impfungen noch einmal gesenkt. Schaut man sich jedoch große Bevölkerungsgruppen an, summieren sich die „statistisch zu erwartenden Todesfälle und Krankheitskomplikationen“ zu hunderten oder tausenden negativ veränderten oder zerstörten Leben.

 

Wir werden im Buch noch zu sehen bekommen, dass Hirte die „statistisch zu erwartenden Impfkomplikationen“ anders bewertet. Die „Impfschäden“ sind für ihn konkret, der Nutzen von Impfungen abstrakt. Dabei sind die „statistisch zu erwartenden Todesfälle und Krankheitskomplikationen“ häufiger und schwerer als die „statistisch zu erwartenden Impfkomplikationen“.

 

„Medizinethiker argumentieren, der Herdenschutz, den eine hohe Impfrate gewährt, stelle ein öffentliches Gut dar, an dem man teilhat; das impliziere aber auch die moralische Verpflichtung, zu diesem Gut beizutragen, indem man sich selbst oder seine Kinder impfen lässt. Die Belange der Allgemeinheit decken sich jedoch nur teilweise mit den Interessen des Einzelnen. Dem geht es in erster Linie um eine möglichst gute Lebensqualität, den Eltern eben hauptsächlich darum, dass ihre Kinder von Krankheits- oder Impfkomplikationen verschont bleiben, sich seelisch, geistig und körperlich gut entwickeln und ohne bleibende Schäden groß werden. “ (Seite 16)

 

Wenn man es auf das Individuum herunterbricht und rein egoistisch berechnend handelt, kann es Sinn ergeben, sich nicht impfen zu lassen. Je mehr Menschen geimpft sind, desto besser sind die Chancen, damit gut durchzukommen. Ob Hirte jedoch einer so egoistisch berechnenden und unsolidarischen Einstellung das Wort reden will, bezweifle ich. Wenn sich mehr Menschen nach Hirtes Vorschlägen richteten, würden die Impfraten deutlich sinken, in dem Falle wären diese Überlegungen hinfällig. Impfungen bieten dem Individuum ebenso Schutz wie der Gemeinschaft. Die Schwächsten in der Gemeinschaft profitieren am meisten vom Herdenschutz, denn ohne ihn wären sie mehr gefährlichen Infektionskrankheiten ausgesetzt. Hirte erwähnt nicht, dass Herdenschutz nur funktioniert, wenn eine Mindestmenge an Personen geimpft ist. Man muss also keine „moralische Verpflichtung“ bemühen, um ein Interesse an einer hohen Impfrate zu haben: Wer einen Herdenschutz möchte, braucht eine hohe Impfrate. So ist die Wirklichkeit.  Es ist einfach so, dass Menschen, die ohne medizinischen Grund Impfungen verweigern, andere Menschen gefährden. Das ist eine Verantwortung, mit der man in dem Fall leben muss.

 

„Es ist eine Gewissensfrage, ob man sich unter diesen Umständen gesellschaftlichen Zielen wie Krankheitsausrottung und Kostenvermeidung unterordnen will – ein Kind könnte ja im Extremfall auch durch eine Impfung zu Schaden kommen oder sich durch die Vermeidung bestimmter Krankheiten andere, schwerwiegendere Leiden zuziehen. Zwar drohen auch durch Krankheiten körperliche Schäden, Behinderungen oder im Extremfall sogar der Tod. Doch selbst wenn man die Risiken von Krankheit oder Impfung exakt beziffern könnte – umfassende und korrekte Erhebungen und Statistiken vorausgesetzt –, wäre damit noch nichts über die konkrete Gefährdung des Einzelnen ausgesagt.“ (Seite 16)

 

Hirte treibt hier ein merkwürdiges Spiel. Risiken von Impfungen und Risiken von Erkrankungen können gegeneinander abgewogen werden, dafür gibt es Daten. Diese Daten besagen nicht nur, dass das Risiko von Erkrankungen das Risiko von Impfungen überwiegt, sondern dass die Risiken von Erkrankungen die Risiken von Impfungen um Größenordnungen übersteigen (je nach Erkrankung 100, 1000 oder 1.000.000fach). Ja, es gibt Risiken beim Impfen. Doch diese Risiken sind im Vergleich zu Erkrankungen für den Einzelnen verschwindend gering. Ansonsten wäre es aus ethischen Gründen nicht möglich, vollkommen gesunde Kinder zu impfen. Jedem Arzt und jeder Ärztin ist das klar.

 

Die Aussage, dass statistische Risiken nichts über die konkrete Gefährdung von Menschen aussagen, ist einerseits richtig, andererseits aber vollkommen ohne Aussagekraft. Sie unterstützt auch durch Wiederholung nicht Hirtes Sichtweise zu Impfungen. Sie könnte jedoch dazu führen, bei LeserInnen eine emotionale Abneigung gegen „Statistiken“ aufzubauen. Eine Abneigung, die Hirte die Argumentation leichter machen würde. Keine statistisch ausgedrückte Gefahr sagt etwas über die konkrete Gefährdung Einzelner aus. Trotzdem schnallen wir uns an, putzen uns die Zähne, gehen nicht bei Rot über die Ampel und waschen uns vor dem Essen die Hände.

 

Auf Seite 17 behauptet Hirte, in den USA gebe es eine Impfpflicht. Das ist in der Form nicht richtig, zumal die einzelnen Bundesstaaten eigene Regeln dazu haben. In vielen Staaten gibt es aber die Pflicht, seine Kinder impfen zu lassen, damit sie eine öffentliche Bildungseinrichtung besuchen dürfen. Da man in den USA seine Kinder selbst unterrichten darf („Homeschooling“), bleiben Eltern Alternativen zu öffentlichen Schule. Außerdem gab es über viele Jahre „weltanschauliche“ Ausnahmegenehmigungen, die in einigen Bundesstaaten intensiv von Eltern genutzt wurden. Das könnte dazu geführt haben, dass, wie Hirte ebenfalls auf Seite 17 behauptet, 10-20% der US-Eltern sich nicht an die Impfempfehlungen hielten. Wenn es eine Impfpflicht gäbe, die ermöglichte, dass 10-20% der Eltern sich nicht daran hielten, wäre der Begriff falsch gewählt.

 

„Die Impfentscheidung ist – bei all den Unsicherheiten, die in diesem Bereich vorhanden sind und immer sein werden – letztlich eine intuitive Entscheidung. Sie ist von einem »rationalen«, wissenschaftlichen Standpunkt aus nur bedingt angreifbar. Schließlich werden wichtige Fragen wie die positiven Auswirkungen von Krankheiten auf die Lebensqualität, die langfristigen Folgen von Impfungen für den Einzelnen und die Nachhaltigkeit von Massenimpfungen in einer Gesellschaft wissenschaftlich nicht untersucht, ja sie sind mit wissenschaftlichen Methoden auch höchstens ansatzweise zu untersuchen, da wesentliche Kriterien wie beispielsweise körperliches Wohlbefinden, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbewusstsein oder auch die Gesundheit in einer Gesellschaft nicht in Zahlen auszudrücken sind.“ (Seite 18)

 

Natürlich kann man intuitiv ein Problem mit Impfungen haben, das bedeutet aber nicht, dass es keine gültigen rationalen Argumente für Impfungen gibt. Es bedeutet auch nicht, dass die Intuition an diesen Argumenten etwas ändert. Es bedeutet, dass man sich aufgrund der Intuition dafür entscheidet, ein höheres Risiko einzugehen als man müsste.

 

Es ist außerdem nicht richtig, dass die Folgen von Impfungen nicht untersucht werden. Wenn das so wäre, wie könnte Hirte dann versuchen, seine Aussagen zu belegen? Dazu nutzt er Studien, die Impfungen und deren Folgen untersuchen. Wie man noch sehen wird, unterstützen die meisten nicht seine Argumentation, doch die Studien gibt es. Wieso er auf der einen Seite diese Studien zitieren und auf der anderen Seite behaupten kann, es gäbe sie nicht, ist mir ein Rätsel. Es gibt wahrscheinlich kaum eine Generation, die so gut „vermessen“ wurde, wie heutige Jugendliche und junge Erwachsene und unsere Kinder werden noch besser untersucht sein. Wenn Impfungen Folgen auf die Bereiche hätten, die Hirte nennt, würden wir das wissen. „Körperliches Wohlbefinden, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbewusstsein oder auch die Gesundheit in einer Gesellschaft” werden untersucht und können überprüfbar und nachvollziehbar dargestellt und verglichen werden.

 

„Zudem sind wissenschaftliche Befunde immer nur eine Annäherung an die Wahrheit und die nie der Weisheit letzter Schluss. Wissenschaft wird immer eine Suche sein, niemals wirklich eine Entdeckung, schreibt der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper.“ (Seite 17)

 

Das ist eine interessante Aussage. Nehmen wir mal an, die von Hirte in diesem Buch angeführten Belege könnten die Aussagen treffen, die er behauptet. Dann wären auch diese nur eine Annäherung an die „Wahrheit“. In diesen Fällen behandelt er jedoch die Annäherung anders als beim aktuellen wissenschaftlichen Konsens, der näher an der Wahrheit ist als Hirtes Binnenkonsens. Popper öffnet hier kein Tor für Beliebigkeit, sondern im Gegenteil, er stellt den Wahrheitsbegriff unter das Kriterium des Wahrscheinlichkeitsgrades nach der Beleglage.

 

„Dies drückt sich auch in den unterschiedlichen nationalen Impfplänen und in der ständigen Diskussion darüber aus.“ (Seite 17)

 

In der Regel unterscheiden sich die Pläne in vergleichbaren Staaten (5) in Details. Über Details kann man immer streiten und wird immer gestritten werden. So unterscheiden sich z.B. die Empfehlungen der Sächsischen Impfkomission (SIKO) bezüglich der 2. Masernimpfung von den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut. Die sächsische Impfkommission empfiehlt eine spätere zweite Masernimpfung (Masern, Mumps, Röteln), weil es Hinweise gibt, dass die zweite spätere Impfung Wirkvorteile bietet. Außerdem sind die Impfquoten in Sachsen noch so hoch, dass es zu keinem großen Risiko durch die Verzögerung kommt. In Bundesländern mit geringerer Impfquote kann eine frühere Impfung mehr Vorteile haben. Auch die Welt verändert sich (zum Beispiel durch den Klimawandel) und mit ihr die Infektionserkrankungen und damit wiederum die Impfpläne. Gerade in der Medizin sind aktuelle Empfehlungen immer nur eine Annäherung an die „Wahrheit“ und müssen immer wieder angepasst werden. Diese Fähigkeit der Medizin spricht aus meiner Sicht für und nicht gegen sie. Wenn man belegen kann, näher an der „Wahrheit“ zu sein als aktuelle Empfehlungen, werden diese in der Regel angepasst (6).

 

Hirte hat in diesem Kapitel versucht darzulegen, dass das Risiko, welches von „Kinderkrankheiten“ ausgeht, abstrakt ist und von Individuen vernachlässigt werden kann. Er hat behauptet, die Folgen von Impfungen würden nicht untersucht und ihm scheinen basale Möglichkeiten der Fragebogendiagnostik nicht bekannt zu sein. Das wäre für einen „normalen“ Kinderarzt verzeihlich. Doch von jemandem, der ein Buch schreibt, in dem er den wissenschaftlichen Konsens zu Impfungen angreift, erwarte ich mehr Sorgfalt.

 


 

  1. Das ist eigentlich nicht der passende Begriff. Ich meine mit „Typ“ ein Antikörper, der gegen ein bestimmtes Antigen gerichtet ist. Nicht die Klasse des Antikörpers wie IgG, IgM, IgE usw.
  2. Fanning J and others. Development of the immunoglobulin repertoire. Clinical Immunology and Immunopathology 79:1-14, 1996
  3. Harris DT. Genetic basis of antibody diversity. Medical microbiology and immunology class noted, University of Arizona Web site, accessed Dec 13, 2008
  4. Wobei die Mehrzahl der Antikörper in jungen Jahren gebildet wird und die Zahl mit dem Alter abnimmt. Aber zur Illustration gehen wir von einer gleichmäßigen Produktion aus.
  5. Vergleichbar in Infrastruktur, Klima und sozioökonomischer Zusammensetzung der Bevölkerung.
  6. Da Medizin und Wissenschaft von Menschen gemacht werden, setzt sich nicht jede Annäherung an die Wahrheit so schnell durch, wie man sich das wünschen würde. Neben dem historischen Beispiel von Ignaz Semmelweis, ist auch die Entdeckung von Infektionen durch Helicobacter pylori ein Beispiel dafür.

 

Diese Seite DSGVO-konform teilen: