Der Umstand, dass heute der direkte wahrnehmbare Eindruck impfpräventabler Krankheiten im Alltag weitgehend fehlt und dies nicht ohne Einfluss auf die Wahrnehmung zur Notwendigkeit von Impfungen bleibt, hat der “Disclaimer” zu diesem Blog bereits angesprochen. Nachstehend zu diesem Thema ein persönlicher und authentischer Erfahrungsbericht:

Ich bin 1953 geboren. Um mein Geburtsjahr herum gab es in der damaligen Bundesrepublik jedes Jahr so um die 10.000 Poliofälle. Ein Jahr zuvor -1952- ereignete sich in den USA eine Polio-Epidemie mit rund 60.000 Erkrankten, von denen etwa 3.000 starben und etwa 20.000 bleibende Lähmungen davontrugen. Polio war in den Köpfen der Eltern allgegenwärtig, als Schreckgespenst, vor dem es damals noch keinen Schutz gab. Auf den Straßen waren hier und da Kinder an Krücken kein so ungewöhnliches Bild. Schon im Kindergartenalter war mir irgendwie bewusst, dass hier etwas lauerte, was uns alle jederzeit hätte betreffen können. Jeder Infekt, jede Erkältung stand im potenziellen Verdacht, es könne sich auch um Polio handeln. 

Und wirklich kam ich selbst bald in Berührung mit dieser fürchterlichen Krankheit.  Der Kindergarten wurde – für uns Kinder unverständlich – plötzlich für eine Weile geschlossen. Ich weiß heute, dass unsere Eltern damals vor Sorge fast verrückt geworden sind. Irgendwann erfuhr ich dann, dass ein kleiner Freund von mir an Kinderlähmung erkrankt war.

Im zweiten Schuljahr sah ich ihn wieder. Die Freude war groß, obwohl er an einem speziellen Stock ging und sich nur mühsam vorwärts bewegen konnte. Wir sind über die Jahre Freunde geblieben, wenn wir uns auch zwischendurch oft länger nicht gesehen haben. Ich weiß von ihm und seiner Familie, dass das tägliche Leben für ihn sehr mühsam war. Seine Beschwerden nahmen über die Jahre immer mehr zu, sein Herz war auch geschädigt durch die Krankheit. Vor drei Jahren standen wir an seinem Grab. Mit 61 Jahren war er verstorben, letzten Endes hat ihn die Polioinfektion ohne Zweifel etliche Lebensjahre und die Erfahrung eines unbeschwerten Lebens gekostet.

In diesem zweiten Schuljahr -1961- gab es einen zweiten Poliofall in meiner Umgebung: Den Sohn eines Arbeitskollegen meines Vaters, den ich auch gut kannte. Räumlich weiter entfernt, er war nicht auf meiner Schule. Was die Anteilnahme nicht geringer machte.

Er kam in die Eiserne Lunge. Mein Vater berichtete eines Tages am Abendbrottisch, er habe von seinem Kollegen gehört, dass der Junge sich so sehr Besuch wünsche. Ich war sofort dabei, meine Mutter dagegen war entsetzt. War so ein Besuch überhaupt möglich? Ja, war er, unter Vorsichtsmaßnahmen. Für einen solchen Besuch gab es im Klinikum einen gesonderten Raum und besondere Hygienemaßnahmen. An sich ist es aber so, dass etwa sechs Wochen nach der Infektion keine Ansteckungsgefahr mehr vom Erkrankten ausgeht. 

Der Besuch bei meinem kleinen Freund war wohl das erschütterndste Erlebnis meiner ganzen Kindheit. Wir hatten ihm ein Päckchen seiner geliebten Micky-Maus-Hefte mitgebracht, die er mit einer Lesehilfe wie der im Bild anschauen konnte. Am deutlichsten ist mir in Erinnerung, dass er die ganze Zeit, in der wir da waren, nur schluchzte. Es war herzzerreißend, niemals werde ich das vergessen. Gut einen Monat nach unserem Besuch starb er. 

Wenn ich heute unser Universitätsklinikum aufsuche, werde ich immer drastisch an diese Dinge erinnert: Im Foyer steht eine der alten Eisernen Lungen, als Mahnung an die früheren Zeiten. Leider viel zu wenig beachtet, von vielen wohl auch gar nicht erkannt.

Dann kam die Polioimpfung, 1962. Damals noch mit Lebendimpfstoffen, die ein durchaus höheres Risiko mit sich brachten als die heute verwendeten Tot-Kombiimpfstoffe. Aber wen störte das? Ich habe damals die geradezu erlösende Stimmung, die der Aufruf zur Polioimpfung mit sich brachte, deutlich empfunden. Und Schluckimpfung? Wie toll war das denn? 

Später im Leben sollte ich dann noch einmal mit der Krankheit in Berührung kommen. Ein sehr geschätzer Chef von mir hatte im Kindesalter eine Hüftlähmung davongetragen, die ihm nur mühsam eine Fortbewegung ermöglichte. Dabei war er immer guter Dinge und einer der gütigsten Menschen, die ich je erlebt habe. Er wurde dann sogar mein Trauzeuge. Auch er hatte viel von seiner Lebensqualität eingebüßt und ist viel zu früh verstorben.

Aber auch mit den Masern habe ich meine eigenen “Erfahrungen”. Ich hatte die Infektion einige Zeit vor meiner Einschulung “eingefangen”. Die Erinnerungen daran sind ein wenig verschwommen, aber als Eindruck noch durchaus präsent. Was ich noch weiß und teils vor mir sehe, ist eine Art lähmender Dämmerzustand mit zugezogenen Vorhängen und unerträglicher Wärme. Ich hatte weder eine Zeitvorstellung, als ich so da lag, noch kann ich mich erinnern, irgendetwas aktiv getan zu haben. Nicht mal ein Bilderbuch oder dergleichen konnte ich ansehen. Als ich gesund wurde, war ich eine Zeitlang so schwach, dass eine Zurückstellung von der Einschulung zur Debatte stand. Was für ein Zynismus angesichts solchen Kinderleids, wenn heute Impfskeptiker argumentieren, es bedürfe keiner Impfung, weil die Todesraten auch ohne diese zurückgegangen seien… 

Niemandem wünsche ich diese Erinnerungen, aber manchmal denke ich, es wäre schon gut, wenn etwas davon im Bewusstsein der Menschen vorhanden wäre, die heute den Impfungen so geringschätzig oder gar ablehnend gegenüberstehen.


Bericht:
Udo Endruscheit

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