Als ich das neue Video von Arvay sah, dachte ich „Ach Clemens…“. Er meint es gut, er sorgt sich um uns, seine Mitmenschen, das nehme ich ihm schon ab. Aber er verrennt sich wirklich in seiner eigenen Argumentation.
Sterile Immunität und so…
So sagt er, Christian Drosten habe erklärt, die SARS-CoV-2-Impfung (im folgenden Impfung) würde nicht davor schützen, dass man andere damit anstecken könne, sollte man sich trotz Impfung mit SARS-COV-2 infizieren (was ja bei 5-10% der Geimpften möglich ist). Er spricht dabei immer davon, dass die Impfung keine „sterile Immunität“ erzeuge. Sterile Immunität bedeutet, dass ein selbst Immuner kein infektiöses Virus mehr abgibt (was ja eigentlich etwas anderes ist als das, womit er Drosten zitiert).
Bleiben wir mal bei der sterilen Immunität, der Nichtweitergabe von infektiösen Viren durch selbst immune Personen. Bei den Corona-Geimpften ist das anscheinend nicht in vollem Umfang so. Doch es zeichnet sich mit einiger Verlässlichkeit ab, als würden vollständig Geimpfte zu ca. 90% keine Infektion mehr weitergeben. Das heißt, wenn alle geimpft sind, würde sich der R-Wert, der bei Corona bei ca. 3 liegt, um 90% verringern und läge bei 0,3. Damit wäre die Pandemie vorbei, denn es gäbe kein exponentielles Wachstum mehr. Diese Prinzipien erklärt übrigens Herr Drosten im NDR-Podcast seit einem Jahr immer wieder. Es lohnt sich somit, den Impfstoff zu nutzen, selbst wenn er nicht bei sämtlichen Geimpften eine sterile Immunität erzeugt. Es gibt nicht entweder „sterile Immunität“ oder gar keinen Effekt und nichts dazwischen. Viele Impfstoffe sind „dazwischen“ und das reicht aus, damit sie nutzen. Arvay verkürzt die Aussage Drostens so sehr, dass sie falsch wird und erweist sich zudem damit einmal mehr als jemand, der von der verfehlten Annahme ausgeht, eine Intervention müsse immer und jederzeit zu 100 Prozent die gewünschte Wirkung zeigen, ansonsten sei sie nicht zu rechtfertigen.
Todesfälle und Teppiche
Weiter erzählt Arvay, Todesfälle durch die Impfungen würden unter den Teppich gekehrt. Gleichzeitig wurde wochenlang in den Medien von nichts anderem als von seltenen Nebeneffekten der Vektorimpfstoffe berichtet (Stichwort Sinusvenenthrombose), die auch – exakt bezifferte – Todesfälle zur Folge hatten. Nebenher wurde an vielen Stellen über Todesfälle berichtet, die am Ende nichts mit den Impfungen zu tun hatten. Im Gegensatz zu Arvay hat mich die Konzentration auf Sensationelles in Bezug auf mögliche Nebenwirkungen geärgert, gleichzeitig ist mir klar, dass Medien so funktionieren. Es stellt sich auch die Frage, wie und woher Arvay wissen will, dass Todesfälle „unter den Teppich gekehrt“ würden, Belege dafür liefert er nicht. Ein von ihm erwähnter Medienbericht über ein tragisches Einzelschicksal ist kein Beleg für diese Behauptung. Ein Beleg wären Hinweise darauf, dass solche Fälle bei den Behörden ankommen und nicht angemessen geprüft würden oder geprüfte und bestätigte Nebenwirkungen nicht veröffentlicht werden. Was Arvay vorträgt, ist nicht mehr als Geraune. Die zuständigen Behörden haben das Risiko von Hirnvenenthombosen schnell erkannt, geprüft und eingeordnet. Jetzt kann jede/r Einzelne persönlich die Entscheidung treffen, ob er oder sie das Risiko eingehen will – denn eine Impfpflicht existiert nicht. Wo da etwas unter den Teppich gekehrt worden sein soll, sehe ich nicht.
Nebenwirkungen, die siebenunddreißigste…
Die Nebenwirkungen nimmt Arvay darüber hinaus als Beleg dafür, dass die Studien nicht lange genug gedauert hätten (hatten wir das nicht schon…?). Mit einem „normalen“ Zulassungsverfahren wären diese Nebenwirkungen früher entdeckt worden, so impliziert er. Das ist jedoch Unsinn. Da die Nebenwirkung ca. 2 Wochen nach der Impfung auftrat, war die Dauer der Studien (und genau die Dauer hatte Arvay kritisiert) ausreichend.
Sein Rekurrieren auf die Dauer ist auch in der Sache verfehlt. Die Anzahl der Probanden hätte höher sein müssen, um das Phänomen früher zu erkennen. Doch auch Phase-III-Studien zu „normalen“ Impfstoffe haben nicht mehr Teilnehmende, eher weniger als bei den Tests der Covid-Impfstoffe, Für die Entdeckung von Effekten, die so selten sind, dass sie selbst in großen Phase-III-Studien nicht entdeckt werden können, ist die IV. Phase gedacht, in der unter der breiten Anwendung der Impfstoffe genau weiter beobachtet wird (Impf-Monitoring) – erfolgreich, wie sich herausgestellt hat. Der Tod jeder einzelnen Person ist eine Tragödie. Doch eine unnötige Verzögerung der Zulassung der Impfstoffe hätte ungleich mehr Menschen das Leben gekostet. Dieser Aspekt hatte auch die Aussetzung der Verwendung eines Verktorimpfstoffs, selbst für einige Tage, zu einem Dilemma gemacht.
Anekdoten und Daten
Arvay bedient sich in seinem Video eines Tricks, den ich auch bei Hirte oft feststellen konnte. Er zählt Einzelfälle als Beleg für seine Aussagen auf, wirft jedoch anderen vor, Einzelfälle zu dramatisieren, um Impfungen besser dastehen zu lassen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob man anhand eines Einzelfalls ein durch Daten belegbares Phänomen illustriert oder ob man einen Einzelfall als Beleg für ein Gerücht präsentiert, dem die aktuellen Daten widersprechen. Die Mehrzahl von Anekdoten ist nicht Daten.
Umgekehrt geht er mit Daten um. Wenn sie der eigenen Geschichte widersprechen, zweifelt er sie an. Ohne dafür gute Argumente zu liefern – in der Regel beschränkt er sich darauf, die Redlichkeit der Datenquellen in Zweifel zu ziehen. Dabei müsste man für angemessene Zweifel oder Kritik oft nur den Diskussionsteil des Papers lesen, da machen die AutorInnen das selbst, entsprechend guter wissenschaftlicher Praxis (1). Gleichzeitig werden schwache Belege für die eigene Geschichte maßlos übertrieben. Oft reicht es schon, das Abstract zu lesen, um herauszufinden, warum die Studie nicht das sagt, was von ihr behauptet wird. Arvay nutzt beide Techniken und wenn nichts hilft, hört er auf, Videos zum Thema zu veröffentlichen.
Oder er wiederholt einfach die gleichen schrägen Fehlschlüsse wie früher schon. So wie seinen Vergleich einer Impfung gegen das Dengue-Fieber mit den Vektorimpfstoffen. Vielleicht hatte ich das aber auch einfach nicht gut genug erklärt…
Die Kinder!
Eigentlich geht es ihm in dem Video um die Kinder. Die will Arvay schützen. Dafür nutzt er Unterkomplexität und macht Andeutungen. Klar scheint für ihn zu sein, dass den Zulassungsbehörden nicht zu trauen ist. Eine angemessene Skepsis gegenüber den Ergebnissen von Studien, die von Pharmaherstellern durchgeführt werden, ist grundsätzlich angezeigt. DIese Skepsis ist übrigens der Job der Zulassungsbehörden. Aber bei Impfstoffen mit einem klaren Ziel, Verhinderung von Krankheit und Tod, sind die Möglichkeiten zur Manipulation begrenzt. Und bei den Zulassungsbehörden sitzen Menschen, die wissen, worauf sie achten müssen. Ich erinnere außerdem an das zaghafte Vorgehen der STIKO, die immer wieder auf Daten gewartet hat, bevor sie sich positioniert hat und aufgrund neuer Daten die eigene Position änderte. Einigen Menschen war das Vorgehen zeitweise zu zögerlich bei den Empfehlungen (mir zum Beispiel). Das zeigt mir, dass die STIKO ihren Job gut macht. In der STIKO sitzen keine Impffanboys wie ich, sondern ExpertInnen, die sich die Daten ansehen und vorsichtig handeln. So vorsichtig wie kaum eine andere Zulassungsinstitution weltweit, möchte ich mal vermuten. Und es sei wiederholt: So etwas wie eine „Notfallzulassung“ gab es hierzulande nicht.
Ein Argument für die Impfung von Kindern ist die Verhinderung vom sogenannten „Long-Covid“. Da die Symptome sehr unspezifisch sind, bin ich persönlich gespannt, was Forschung zu dem Thema in den nächsten Jahren ergibt und kann mir vorstellen, dass nicht nur infektiologische Mechanismen im Spiel sind. Arvay scheint sich aber schon sicher zu sein, dass es sich nicht lohnt, dem Phänomen Aufmerksamkeit zu schenken oder dagegen etwas zu unternehmen. Vor allem, nicht zu impfen.
An dieser Stelle kommt besonders seine Unterkomplexität zum Tragen. Er lehnt nicht rundheraus ab, dass Covid-19 Langzeiteffekte haben könnte. Er lehnt jedoch ab, dass diese viele Menschen schwer betreffen könnten, die „Fatigue“ haben (er meint vermutlich das chronische Fatigue Syndrom). Dabei wirkt er erneut nicht sonderlich empathisch, auch wenn er das vermutlich nicht böse meint. Von jemandem, der sich professionell mit Gesundheit beschäftigt, erwarte ich eigentlich eine gewisse Demut, die ihn davor bewahrt, psychosomatische Zusammenhänge in einem YouTube-Video en passant wegerklären zu wollen.
Ach, Clemens …
Autor; Dr. med. Jan Oude-Aost
(1) “Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen.” (Karl Popper, Logik der Forschung)